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europa - die texte - die entführte

Die Entführte

…Plötzlich setzte sich die Rinderherde, die stundenlang am Berghang gegrast hatte, in Bewegung. Die Tiere liefen zum Strand. Langsam zunächst, dann immer schneller werdend. Ein stampfendes, trommelndes Geräusch, das stetig anschwoll und den Boden beben liess. Eine Welle aus sich hebenden und senkenden Köpfen, die über die Wiese brandete und die Mädchen, die ihre Narzissen und Hyazinthen fallengelassen und sich aufgerichtet hatten, umspülte, ohne sie niederzureissen, und die sich verlief gegen das Meer hin, verebbte und schliesslich stillstand. Unter den schwarzen, roten, gelblichen und gefleckten Rindern befand sich ein weisser Stier, der sich langsam bewegte, während die anderen zu warten schienen, so regungslos, wie sie zuvor am Berghang gestanden hatten. Zutraulich kam er auf die eine zu, die von den anderen umringt wurde und die sich nur nach und nach aus der Schreckensstarre löste, in die herandonnernde Herde sie versetzt hatte. Neugierig ging sie einige Schritte auf den Stier zu, der nun stehen geblieben war, den Kopf erst hob und dann zur Seite bog, seinen gedrungenen, kraftvollen Körper mit dem strotzenden Geschlecht ihren Blicken darbietend. Der ihre Hand leckte, die sie nach ihm ausgestreckt hatte, und sie dabei aus grossen Augen ansah, deren Blick sie menschlich und verwirrend fand. Nach einer Weile liess er sich vor ihr nieder. Ihre Hände strichen über seine zitternden, muskelgespannten Flanken, den Widerrist. Übermütig geworden schwang sie sich rittlings auf seinen Rücken; er erhob sich langsam und trug sie zum Meer, in das man an diesem flachen Ufer weit hineinwaten konnte. Als der Stier keinen Grund mehr unter den Hufen fand, begann er zu schwimmen und entfernte sich immer weiter vom Festland und den Gefährtinnen, die, als sie merkten, dass der Stier nicht zurückkehrte, zum Wasser rannten und voller Angst und Panik nach jener riefen. Fast lautlos durchpflügte der Stier die Wasseroberfläche, und je weiter er hinaus aufs offene Meer kam, desto schwächer wurden die Rufe. Die Zeit dehnte sich unter der Sonnenglut, und bald war nichts mehr zu hören als der Wind, die Möwenschreie und das Rauschen der Wellen.

An einer fremden Küste verwandelte sich der Stier unter ihren Händen. Überwältigt von seiner Begierde, presste sie ihn unter einer Platane an sich, bis er ihren Körper zu sprengen schien. In den folgenden Wochen schlief sie fast täglich mit ihm, dessen Gestalt sich in ihrer Erinnerung ständig veränderte. Sie wurde schwanger, gebar ihm drei Kinder und heiratete am Ende einen anderen.


So könnte man sie auch erzählen, die Geschichte der Europa: ohne Namen, ohne Erklärungen. Ein fast stummes, wortloses Geschehen. Eine Abfolge von Zauber und Schrecken. Der Mythos in reiner Form als Kette urtümlicher Bilder, deren affektive Dynamik noch nicht durch die Herstellung narrativer Zusammenhänge kanalisiert und eingedämmt ist. Mythenerzähler tun dies freilich immer, die anonymen Rhapsoden, die die Geschichten von Göttern und Menschen von einer Generation zur nächsten weitertragen, ebenso wie die Dichter, die sie aufgreifen, benutzen und zu individuellen Werken umgestalten. Nicht zu vergessen die Mytho- und Logographen unter den Gelehrten, die Sammler und Syste-matisierer altertümlicher Überlieferungen.

Europa, das ist die junge, verführerische Frau "mit dem breiten Gesicht" oder "mit den weiten Augen": Weil Zeus sie begehrt, entführt er sie aus ihrer Heimatstadt Tyros in Phönizien, dem heutigen Libanon, und trägt sie in Stiergestalt übers Mittelmeer nach Kreta - oder lässt dies einen wirklichen Stier tun. Zeus macht sie zur Mutter dreier Söhne - Rhadamanthys, Minos und Sarpedon. Die Überlieferung fügt sie ein in ein Geflecht von Sterblichen und Unsterblichen, das in der griechischen Landschaft Argolis mit dem schattenhaften Flussgott Inachos seinen Anfang nimmt und das Griechenland mit Ägypten, Phönizien, Kilikien, Kreta und Illyrien verbindet. Sie ist verwandt mit Semele, der Mutter des Dionysos, und dieser nimmt ihre Enkelin Ariadne, die Helferin des Theseus, zur Geliebten und vergöttlicht sie. Über ihren Bruder Kadmos ist sie mit dem Königshaus von Theben und also auch mit Ödipus verwandt. Kühen und Stieren kommen in dieser Genealogie bedeutsame Rollen zu: Europas Vorfahrin Io, von Zeus geliebt und von Hera verfolgt, flieht in Kuhgestalt von Argos bis Ägypten, wo sie wieder zur Frau wird. Europas Bruder Kadmos folgt einem Orakelspruch gemäss einer Kuh und gründet dort, wo das Tier erschöpft niedersinkt, die Stadt Theben. Der kretische König, den Europa am Ende heiratet und dessen Name mit Asteros, Asterios oder Asterion angegeben wird, mag selbst ein Doppelgänger des Gottes in Stiergestalt sein: byzantinische Quellen berichten, dass in der kretischen Stadt Gortyn ein Zeus Asterios verehrt wurde. Und Pasiphae, die Gattin des Minos und also Europas Schwiegertochter, verliebt sich auf göttliches Geheiss in einen Stier und empfängt von ihm den Mino-tauros, der eine weitere Manifestation dieses Gottes gewesen sein mag. Europa selbst war ursprünglich wahrscheinlich eine Göttin; in Gortyn wurde sie als Europa Hellotis kultisch verehrt. Aus dem zweiten Jahrhundert nach Christus ist bekannt, dass sie im phönizischen Sidon mit Astarte identifiziert wurde. Mythologisch ist sie also vielleicht eine Schwester dieser westsemitischen Göttin, die sich in Gestalt einer Kuh ihrem männlichen Gegenstück Astart paarte, der ihr als Stier begegnete.

Aus einer Erzählung, die von gewalttätigem, ungezügeltem Sex handelt und bis in die Urgründe des Mythos zurückreicht, wurde ein Stoff für die Kunst. Ein Thema von Epen und Dramen und schliesslich von Allegorien. Der Hellenismus machte sie zur Namenspatronin eines Erdteils, nachdem "Europa" lange Zeit einen kleinen Flecken in der Nähe des Peloponnes bezeichnet hatte. Das ist sie geblieben, über das Ende der Antike hinaus, und noch mittelalterliche Fürstengeschlechter suchten, sich auf Ahnväter aus ihrer Verwandtschaft zurückzuführen.

In unserer Gegenwart angekommen schmückt Europa ein Werbeplakat der Europäischen Union: Im tiefblauen Meer reitet sie auf einem treuherzig blickenden Stier, dessen Fell unter der mediterranen Sonne golden schimmert.



Andreas Kuehne und Christoph Sorger