„AD NATURAM DELINEAVIT“
... „nach der Natur gezeichnet“, mit dieser Formel beteuerten Künstler des Barock und der Aufklärung, dass sie ihr Motiv direkt vor Ort auf- genommen hätten und dieses der dort aufzufindenden Wirklichkeit entspräche. Eine Formel, die Naturtreue oder Naturähnlichkeit als Marketinginstrument behauptete, um dem Käufer einer Vedute oder eines Landschaftsbildes Vertrauen einzuflößen. Noch in den Anfangszeiten der Fotografie wurde diese Formel eingesetzt, wobei die Künstler sich schon der neuen Technik bedienten, diese aber nur unterstützend einsetzten, ohne zunächst das Primat der künstlerischen Umsetzung aufzugeben. Die Formel hat nichts zu tun mit der später einsetzenden Plein-Air-Malerei, bei der es nicht um die Authentizität von Topografie oder Architektur und Städtebau geht, sondern um atmosphärische, malerische Themen. Beides sind völlig verschiedene ästhetische Kategorien, die zu völlig verschiedenen künstlerischen Ansätzen und Werken führen.
Der Münchner Künstler Ekkeland Götze geht einen ganz anderen Weg. Auf den ersten Blick erinnern seine Arbeiten an Werke der Konkreten Kunst. In Braun-, Grau-, Beige-, Rot- und Grüntönen strahlen die quadratischen monochromen Arbeiten eine ungeheure Ruhe und große Schönheit aus. Eine Wirkung, die schon eintritt, wenn man noch nicht weiß, was sich hinter dem Konzept des Künstlers verbirgt. Auf ausgedehnten Reisen, die immer unter einer bestimmten Fragestellung stehen, nimmt Götze Erde vom Boden auf, sammelt sie und bringt sie in einem geheimen Standarddruckverfahren auf Papier, meist Büttenpapier, das im Keilrahmen aufgespannt wird, bei großen Formaten auf Nessel kaschiert. Er malt mit der Natur. Sein Verfahren hat er Terragrafie genannt, übersetzt: Zeichnen mit Erde, aus dem lateinischen Wort „terra“ – Erde – und dem griechischen „graphein“ – schreiben, zeichnen.
Dabei verbietet er sich jeden Einfluss auf das Material, das er nur siebt und mit einem Bindemittel versieht. Erklärte Absicht ist es, Erde eben nicht zu Pigment zu verarbeiten und damit zu „degradieren“. Götze verweigert die jahrhundertealten Kategorien von Stil oder künstlerischer Handschrift. Der Künstler, der immer Künstler werden wollte und sich dies unter erschwerten Bedingungen in Dresden in den 70er- und 80er-Jahren erkämpft hat, sieht sich als Medium, das nur „rausholt, was da ist“. Die Quadratform schließt jede Variation aus, die Anordnung mehrerer Quadrate auf einem Blatt gehorcht ausschließlich geografischen oder chronologischen Kriterien. Eventuell auftretende Texturen oder Strukturen der monochromen Oberflächen entspringen der Körnigkeit und chemischen Zusammensetzung der mitgebrachten Erden. Keine naturalistische Deutung, auch keine ästhetischen Kriterien, nur dieser Fleck Erde, dessen Struktur, spirituelle Bedeutung und individuelle Geschichte stehen im Fokus. Es ist ein System, das an die Authentizitätsformel anschließt, aber „Natürlichkeit“ zu einem Absolutheitsgrad steigert, der nicht mehr übertroffen werden kann. Götze spielt dabei mit zentralen Kategorien der Kunstgeschichte – Natur und Abstraktion – und zielt zugleich auf die Emotion des Betrachters, der mit der Aura des jeweiligen Ortes bestimmte gewusste Inhalte assoziiert. Die ästhetische Kraft und Schönheit der „Reisebilder“ oder „Ortsbilder“ trifft uns unmittelbar, bevor wir wissen, dass es sich um Erden aus Sumatra oder Kreta, vom Berliner Mauerstreifen oder vom Sinai handelt. Als unmittelbar kraftvolle Erscheinung der Erde, begleitet vom Element Feuer, nehmen Vul- kane in seinem Erdbild-Projekt eine besondere Stellung ein. Bisher hat er fünfzehn Vulkane auf fünf Kontinenten besucht.
1999 näherte sich Götze dem heiligsten Berg der Tibeter, dem „Kailash“ oder auf tibetisch „Gang Rinpoche“, mit tiefem Respekt. Er umrundete den heiligen Berg zu Fuß in drei Tagen, wobei er an zwölf heiligen Stellen des traditionellen Pilgerwegs Erde entnahm. Die damit gedruckten Terragrafien fügte er gemeinsam mit vier Texten und einem handschriftlichen Segen des XIV. Dalai Lama Tenzin Gyatso zu einem Künstlerbuch, das eingeschlagen in gelbe Seide zwischen zwei geschnitzten Holzdeckeln liegt. Hier sind die Verweise besonders vielfältig: Unter anderem symbolisieren das Quadrat und die Farbe Gelb nach tibetischer Vorstellung die Erde. Die Zwölfzahl entspricht den zwölf Monaten eines Jahres und den zwölf Jahren eines Jahreszyklus.
Ob er nun an den Amazonas reist oder das von Tsunami und Fukushima gebeutelte Japan besucht, ob er an Orte geht, die den Sioux seit Urzeiten heilig sind, oder in Neuseeland dem Schöpfungsmythos der Maori nachspürt – Ekkeland Götze arbeitet immer mit den Menschen vor Ort zusammen, lässt sich von ihnen, ihrer Spiritualität und ihren Mythen leiten und entnimmt seine Erdproben nur mit ihrer ausdrücklichen Erlaubnis.
Es ist ein tiefes Nachdenken über Wirklichkeit, über Authentizität und Natur, die die mit Erde in ihren natürlichen Farbtönen gedruckten Quadrate erzeugen. Ihre schiere Schönheit, die aus dem Zusammenspiel der Erdtöne entsteht, darf nicht dazu verführen, die Erdbilder unter rein ästhetischen Gesichtspunkten zu genießen. Hier geht es nicht um das, was man sieht. Die barocke Wirklichkeitsformel verkehrt sich hier in ihr Gegenteil: Es geht um das, was hinter der reinen Erscheinung steht. Das, was auf dieser Erde geschah und geschieht, wird evoziert. An diese Geschehnisse erinnert Ekkeland Götze mit seinen Erdbildern einzelner Orte, die sich à la longue zu einem „Bild der Erde“ – ihrer Geschichte und spirituellen Bedeutung – zusammenfügen werden.
Im Auftrag der Erzdiözese München-Freising hat Ekkeland Götze für die alte St. Christophskirche in München-Fasanerie sein System im Jahr 2018 auf eine neue Ebene gehoben, es mit dem Schicksal einer Person verknüpft und in einen neuen Werkstoff übertragen. Nachdem er schon 2008 mit zwei Projekten am Dominikuszentrum in München-Nordheide seine Kunst in den Dienst der Kirche gestellt hat, hat er hier nun in Glas gearbeitet und ein Kirchenfenster gestaltet, das Priester Michael Höck (1903– 1996) gewidmet ist und die Stationen seines Lebens aufgreift.
Im Dominikuszentrum formen vier quadratische Fresken, fest verankert an einer Wand der Sakristei mit ihren Zwischenräumen ein gleichschenkliges Kreuz. Sie sind mit vier Erden vom Berg Sinai geschaffen worden und verweisen auf den Ort, an dem Moses die Gesetzestafeln mit den zehn Geboten erhielt, sowie an den Ort des brennenden Dornbusches (Ex 3,2). Eine Wandarbeit im Dominikuszentrum verweist mit einem Fresko aus Erde des Vernichtungslagers Belzec und einer gegenüberliegenden, aber leerbleibenden Vertiefung gleicher Größe an die in Belzec ermordeten Juden, Sinti und Roma.
Auch das Fenster in Alt-St.-Christoph wird zum Erinnerungsort und zeichnet das Leben von Prälat Michael Höck, einst Kurat von Alt-St.-Christoph, Seelsorger in der Pfarrei München-Feldmoching und Widerstandskämpfer gegen das NS-Regime nach.
Ekkeland Götze hat das südwestliche Langhausfenster von Alt-St.-Christoph, nahe der Empore, unter der sich der Spitzel versteckt hatte, dessen Aussage zur Haft Höcks in Oranienburg und Dachau führte, gestaltet. Im bewussten Gegensatz zu den geschweiften Formen des historischen Fensters stehen zwölf quadratische Glasfelder, die mit subtilem Farbenspiel auffallen. Das Glas dieser zwölf Felder ist mit Erden von zwölf Stationen im Leben Michael Höcks gebrannt, von seiner Geburt in Innzell 1903 über die Schulzeit in Scheyarn, das Studium in Freising und Rom, wo er 1930 zum Priester geweiht wurde, die Haft in den KZs Oranienburg und Dachau bis zur Nachkriegszeit und zum Grab im Kreuzgarten des Mariendoms in Freising, wo er 1996 starb.
KATRIN POLLEMS-BRAUNFELS