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terrie sultan 1997

EKKELAND GÖTZE: TERRAGRAFIE

"Wir haben vergessen, was Erinnerung ist und was sie bedeuten kann;
und verschlimmern die Dinge durch die Tatsache unseres eigenen Vergessens."(1)

1989 erfand Ekkeland Götze die Terragrafie, einen exakten grafischen Prozeß, in dem reine Erde auf Papier gedruckt wird.
Diese Bilder sind formal minimalistisch in ihrer Struktur, tatsächlich sind sie von einer tief gefühlten Untersuchung über die Natur des Ortes und die Kraft der Erinnerung erfüllt. Göt- ze, der in Dresden geboren wurde und nun in München lebt und arbeitet, ist in den letzten acht Jahren extensiv gereist und hat Erdproben an ausgewählten Orten entnommen, weil, wie er bemerkt: "Das Element ERDE in direkter Beziehung zur Dimension ZEIT steht." In sol- chen Arbeiten wie Die Alpen, 1988, Terra di Siena, 1990, oder London, 1994 hat Götze Er- de sowohl aus ländlichem als auch aus urbanem Gelände entnommen, mit der Absicht, die physikalischen und spirituellen Charakteristika zu entschlüsseln, um die Konstruktion eines Gefühls für den jeweiligen Ort zu erleichtern. Götzes Terragrafien besetzen das Territorium zwischen der nackten Realität und der lyrischen Abstraktion, zwischen dem öffentlichen und dem privaten Raum des Individuellen. Wie die Non-Sites des amerikanischen Konzep- tionskünstlers Robert Smithon, behandelt Götzes Kunst Themen wie Deplazierung, Entro- pie, und noch wichtiger, die Integration der Kunst in das alltägliche Leben. Begründet in den Lexika der Konzeptkunst und der monochromen Malerei, scheinen seine beschwören- den, naturalistischen Farbstudien beides zu sein, idealistisch und subtil spirituell. Dadurch, daß er seine philosophischen Absichten in den formalen Rand eines leeren Blatt Papiers faßt, füllt Götze seine Bilder mit metaphysischer Sensibilität; indem er den inneren Gehalt durch einen abstrakten Gestus strukturiert, erhebt er unsere Erfahrung von einer verbunde- nen zu einer spezifisch planen Bildsicht hin zu einer Metapher mit universeller Resonanz.
Götzes vielleicht subtilstes und kraftvollstes Terragrafieprojekt ist die Serie Berliner Mauer TODESSTREIFEN, veröffentlicht 1992. Das Konzept dieser Arbeit ist vollkommen einfach: im März 1990 ging der Künstler für einige Tage in das Gebiet zwischen den äußeren und den inneren Sperranlagen der Berliner Mauer, "Todesstreifen" genannt, weil so mancher Re- publikflüchtling in dieser Zone getötet wurde, während er versuchte, in den Westen zu ge- langen. Wie ein Archäologe suchte Götze 29 Stellen entlang der 161 km langen Mauer aus, an denen Menschen zu Tode kamen, entnahm Erdproben von jedem Ort. "Die ERDE stellt durch ihre organische Struktur ein objektives und einmaliges Mittel zur Bestimmung eines konkreten Ortes innerhalb einer konkreten Zeit dar", schreibt er. Um die archäologi- sche Metapher weiter zu verfolgen, liegen die Blätter von Berliner Mauer TODESSTREIFEN, wenn sie nicht ausgestellt sind, in einer Holzkiste, die aus dem Holz von Munitionskisten der Sowjetarmee gebaut ist. Das Ganze wird unterstützt durch eine Photodokumentation, eine Karte der Fundstellen, Erd-analysen und den Namen von allen Opfern. Diese faßbaren Ergänzungen überlagern aber nicht den subtilen Sinn für Spiritualität, der den inneren Ge- halt des Werkes ausmacht.
Wo liegt die eigentliche Bedeutung dieses Werkes? Götze stellt seine planen Darstellungen als Gedenkstätte vor, die gleichzeitig vermitteln und umschließen: die alltäglichen Erd- brocken, die das reine weiße Papier beflecken, werden zu Analogien für die Blutspuren der- jenigen, die kämpften, ihr Leben riskierten und starben. Begründet in der tendenziösen Ge- schichte des kalten Krieges, wird der greifbare archäologische Charakter des Kunstwerkes verwoben zu Erinnerung und Imagination in einen hypothetischen Ort, eine Landschaft des Geistes, das individuelles Leben und individueller Tod mit kollektivem Bewußtsein ver- mengt.
Unbestreitbar vereinigt Berliner Mauer TODESSTREIFEN zwei sehr unterschiedliche Ereig- nisse und sehr unterschiedliche Zeiten: zunächst den Tod der Flüchtlinge - Tote, die im Laufe von mehreren Jahren starben, zum größten Teil anonym und unter dem Mantel des Schweigens, und auf der anderen Seite der Fall der Berliner Mauer und die Wiedervereini- gung Deutschlands, einem hoch offiziellem Ereignis, das Flucht nun unnötig macht und gleichzeitig den individuellen Mut derer, die die Flucht wagten, verdunkelt. So ist dieses Werk ein Widerhall mit einem tiefen Doppelsinn von Verlust und Wiedergewinn, gleichsam ein Echo von einem Bild zum nächsten, da jedes dieser erdbedeckten Blätter ein Hinweis auf die flüchtige Natur des Lebens und des Todes des einzelnen unter der größeren Macht der sozialen Umwälzung ist. Wie ein Tongedicht oder ein memento mori sind Götzes be- druckte Blätter beschwörende Studien über Gefühle, ausgedrückt in der konkreten Sprache der Erde.

Terrie Sultan
Curator of Contemporary Art Corcoran Gallery of Art, Washington, DC

(1) Edward S. Casey, Remembering: A Case Study, quoted in Images of Memory: On Remembering and Representation, Susanne Kuchler and Walter Melion, eds. (Washington, DC: Smithsonian Institution Press, 1991)